Der Hang zu Vintage

  • Matthias Wagner-Uhl
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Der Hang zu Vintage

Was in der Modebranche Erfolg verspricht, soll auch in der Bildungswelt altertümlichen Charme verbreiten: Mit Vintage-Konzepten für die Schule versuchen notorische Realitätsverweiger die Illusion von Aufbruch zu vermitteln. Allein: Die Welt im Jahr 2022 setzt eine andere Tagesordnung. Zwischen Ukraine-Krieg, Klimakrise und einer schier unendlichen Pandemie-Geschichte muss sich Schule als zukunftsfähige Antwort auf die großen Herausforderungen unserer Zeit beweisen.

„Selten wurde deutlicher, um was es in der Schule gehen muss als in dieser Zeit, in der eine Krise die nächste jagt“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V. Schule als Selbstzweck erteilt der Vertreter der baden-württembergischen Gemeinschaftsschul-Community eine klare Absage: „Schule hat einen sehr klaren gesellschaftlichen Auftrag – sie muss junge Menschen möglichst gut auf die Zukunft vorbereiten und nicht die Standesdenke vergangener Zeiten wiederbeleben“.

Was zum dafür notwendigen Repertoire gehört, macht die internationale Bildungsforschung sehr deutlich: Die so genannten „21st Century Skills“, die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts, umfassen ein Dutzend Fähigkeiten, die zusätzlich zu einem soliden Wissensschatz für das Leben im Informationszeitalter unverzichtbar sind: Kritisches Denken, Kreativität, Zusammenarbeit, Kommunikation (Lernkompetenzen), Informations-, Medien- und Technologiekompetenz, Flexibilität (Digitale Kompetenz) sowie Führung, Initiative, Produktivität und Soziale Fähigkeiten (Lebenskompetenzen). Genau diese Qualitäten sind gefragt, wenn sich die Schülerinnen und Schüler von heute in der unsicheren und wenig einschätzbaren Erwachsenenwelt von morgen zurechtfinden müssen. Oder wie Gemeinschaftsschul-Sprecher Wagner-Uhl sagt: „Wenn Schule auf das Leben vorbereiten soll, muss sie sich definitiv diesem öffnen und den zentralen Zukunftsskills hinreichend Raum geben.“

Doch die Tendenz ist genau anders: „Wir erleben gerade wie Schule in Deutschland an viel zu vielen Stellen immer mehr um sich selbst kreist, statt ihrem gesellschaftlichen Auftrag gerecht zu werden“, sagt Vereinsvorsitzender Wagner-Uhl: „Die angeblichen Patentrezepte der Vergangenheit greifen nicht mehr – dafür hat sich das Leben in den vergangenen zwei Dekaden viel zu sehr verändert“. Eine Einsicht, der sich Teile der Schulwelt hartnäckig verweigern.

Tatsächlich verlangt es Mühe und Einsatz, dem konstanten Entwicklungsdruck einer dynamischen Gesellschaft und einer noch rasanteren Transformation des globalen Weltgeschehens gerecht zu werden. Für Wagner-Uhl und seine Kolleginnen und Kollegen in der Gemeinschaftsschul-Community ist es selbstverständlich, Teil des unverzichtbaren Lebenslangen Lernens zu sein: „Wie können Lehrende für sich in Anspruch nehmen, Lerner auf ihrem Entwicklungsweg zu unterstützen und sich selbst notwendigen Lern- und Entwicklungsprozessen zu verweigern?“, sieht der erfahrene Pädagoge ein ausgewachsene Glaubwürdigkeitsproblem.

Der Benchmark für das Land der Tüftler und Erfinder, der weltweiten Automotive-Konzerne und Hidden Champions liegt übrigens außerhalb deutscher Landesgrenzen. Wer sein täglich Brot auf internationalen Märkten verdient, muss sich auch beim Thema Bildung im internationalen Vergleich messen lassen. Beim genaueren Hinschauen zeigt sich, dass die globalen Bildungsgewinner auf inklusive, integrative Schulsysteme setzen, die sich zudem schon vor Jahren die Digitalisierung als Handwerkszeug erschlossen haben und für die längeres gemeinsames Lernen kein Gegenstand lebensanschaulischer Debatten, sondern der Ausgangspunkt individuell ausgestalteter Bildungskarrieren ist.

Für Wagner-Uhl und seine Kolleg*innen ist offenkundig: „Schule muss zu den Kindern passen und nicht umgekehrt.“ Um genau diese Passung zu prüfen und herzustellen, bedarf es eines aufmerksamen Blicks auf jedes einzelne Kind. Gerade das an der Gemeinschaftsschule immer noch nicht mit Ressourcen hinterlegte Coaching (trotz eines klaren schulgesetzlichen Auftrags!) sowie variantenreiche und flexible Formate des Lehrens und Lernens in der Lerngruppe bieten den beteiligten pädagogischen Profis Gelegenheit, ihren Schülerinnen und Schülern hier individuell gerecht zu werden.

Die von rückwärtsgewandten Bildungsakteuren überstrapazierte Mär eines Einheitsbreis an der Gemeinschaftsschule offenbart neben einer eindrucksvollen gesellschaftspolitischen Ignoranz den bedauerlichen fachlichen Stillstand ihrer Erzähler. Sie unterstreicht zugleich eine persönliche Entwicklungsverweigerung genau jener Menschen, die für ihr eigenes Leben von allen Vorzügen des Systems Schule profitieren.

 

Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender

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