Endspurt der Vergessenen

  • Dr. Ulrike Felger
  • NETZWERK SCHULE

Endspurt der Vergessenen

Mit ihrer Null-Punkte-Regelung für die diesjährigen Abiturprüfungen zeigt die Kultusministerin zugleich Herz und Verstand. Auch die Absolvent*innen der anderen Abschlussprüfungen an Baden-Württembergs Schulen brauchen ein entsprechendes Entgegenkommen.

„Wir halten es für ein vielversprechendes Zeichen, wenn eine Kultusministerin endlich anerkennt, dass die Jugendlichen, die an unseren Schulen vor den Prüfungen stehen, eine absolute psychische Ausnahmesituation meistern müssen“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V. Damit zeige Ministerin Theresa Schopper gleichermaßen Herz wie Verstand. „Es ist gut, dass es beim Thema Schule endlich um die jungen Leute und deren Weg in ein selbstbestimmtes Leben geht“, schließlich wisse jeder, der in den letzten beiden Jahren Prüflinge durch diese Zeit des schulischen Endspurts begleitet habe um die enorme Belastung, die dabei auf den Betroffenen liege.

Zugleich appelliert Wagner-Uhl an die Ministerin, jene Schüler*innen ebenfalls mit auf‘s Radar zu nehmen, die dieses Jahr einen Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife zu absolvieren haben: „Ab 2022 geht die ‚vergessene Mittelstufe‘ zu den Prüfungen – das sind jene Schülerinnen und Schüler, die in den letzten beiden Jahren der Schule@Corona unzählige Monate ohne regulären Schulbetrieb klarkommen mussten – sie waren die Letzten, die die Schulhäuser wieder von innen gesehen haben!“

„Das Lernen unter Pandemiebedingungen erschwert eine konzentrierte und damit zielführende Prüfungsvorbereitung genau wie es anhaltend die alltägliche schulische Arbeit belastet“, erklärt Wagner-Uhl: „Trotzdem erwarten wir von Kindern und Jugendlichen, die unter der Pandemie z. T. vielfach benachteiligt sind, dass sie weiterhin zu Höchstleistungen auflaufen“, fordert Wagner-Uhl hier dringend nachzusteuern. Auch für die beteiligten Lehrkräfte sei die dauernde Jonglage von Aufholprogrammen, Lückenaufspüren und hektischer Prüfungsvorbereitung gegen die tickende Quarantäne-Uhr kaum zu stemmen. „Da ist ein Druck im System, der vielen Beteiligten nach zwei Jahren Corona-Kraftakt den Rest gibt“, sagt der Vereinsvorsitzende.

Das ewige Schielen auf bundesweit vergleichbare Abschlussprüfungen hält Wagner-Uhl für grundverkehrt und eine absurde Illusion: „Abgesehen von regionalen Disparitäten gibt es durch die unterschiedlichen Prüfungsformate der Bundesländer eh keine Vergleichbarkeit – dazu kommen höchst ungleiche Bedingungen unter denen Schulgemeinschaften und Lernende die Pandemie meistern müssen“. Hier unter dem Mantel einer vermeintlichen Vergleichbarkeit auf etablierte Standards zu pochen, konterkariere die vielfach geäußerte Besorgnis um die psycho-soziale Gesundheit der jungen Menschen im Land.

Die Forderungen der Interessensvertretung sind klar:

  • Die Prüfungszeiten für den Hauptschul- und den Realschulabschluss müssen angemessen verlängert werden,
  • evtl. nicht bestandene Prüfungen 2022 und bei den beiden kommenden Prüfungsdurchgängen müssen auf Wunsch der Prüflinge als „nicht unternommen“ bewertet werden können, d. h. im Folgejahr kann die Prüfung „schadlos“ wiederholt werden, wenn der Zugang zu zulassungsregulierten, weiterführenden Bildungsangeboten am Prüfungsergebnis scheitert, müssen die Prüfungen auf eigenen Wunsch im Folgejahr ebenfalls „schadlos“ wiederholt werden können, künftig müssen auch einzelne Prüfungsbestandteile in einem angemessenen Zeitfenster wiederholbar sein, ohne ein ganzes Lebensjahr zu verlieren. Last but not least müssen wir mittelfristig als Gesellschaft Sorge tragen, dass definierte Mindeststandards wie sie z. B. Vera ausweist, ernstgenommen und von möglichst vielen Kindern und Jugendlichen erreicht werden.

„Professionelle und verantwortungsvolle Lehrkräfte zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf die individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse der Lernenden eingehen und immer deren Zone der nächsten Entwicklung in den Blick nehmen“, resümiert Wanger- Uhl. Genau hier liegt die Stärke der Gemeinschaftsschule. Doch dies sollte nicht nur für den schulischen oder besser sogar lebenslangen Lernprozess gelten, sondern auch und vor allem für unser dringend zu überdenkendes und längst überkommenes Prüfungssystem.

Dr. Ulrike Felger, 

Pressestelle GMSBW

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