Fenster auf und Augen zu

  • Dr. Ulrike Felger
  • NETZWERK ELTERN

Fenster auf und Augen zu

Fenster auf und Augen zu

Mediziner, Lebenswissenschaftler, Statistiker sagen seit Anfang des Jahres voraus, was uns zu Weihnachten blüht, wenn die Verantwortlichen beim Kampf gegen die Pandemie auf Umfragewerte und politische Zweckgemeinschaften schielen, statt auf weltweit ausgewiesene Expert*innen zu hören.

Nun sind wir also so weit. Die Inzidenzen schießen durch die Decke. Am 25. Februar 2020 wurde der erste Corona-Fall im Land gemeldet, am 12. März 2020 gab es den ersten Todesfall. Zum 17. März 2020 wurden die Schulhäuser geschlossen, als vom Landesgesundheitsamt 1.641 Infektionen mit dem Coronavirus bestätigt wurden und die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 auf vier (!) beziffert wurde. Aus heutiger Sicht surreal. Am 19. November 2021, meldet der Corona-Bericht für Baden-Württemberg 11.440 Verstorbene, 634.010 Genesene und 101.850 aktuell Infizierte. Die 7-Tage-Inzidenz liegt landesweit bei 421 mit Ausreißern an Hotspots, die dem Lesenden spontanen Schwindel bescheren. Und die Kurve geht weiter nach oben. Ein Fünftel der Intensivbetten ist von Covid-Patienten belegt. In den Ballungsräumen sind die Kinderstationen von jungen Patienten mit schweren Atemwegsinfektionen wie dem RS-Virus überlastet. Das Gesundheitssystem steht vor den Kollaps.

Und die Schulen? Sie sind gezwungen einen vermeintlichen Normalbetrieb zu simulieren („Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen“), den es seit März 2020 nicht mehr gibt. Es ist müßig, all die Versäumnisse der letzten 20 Monate einzeln aufzuzählen. Wer sich ansatzweise für die Kinder und Jugendlichen im Land interessiert, weiß was in den Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen los ist. Fenster auf und Augen zu, so lautet die Parole.

Der wütende Zwischenruf unseres Elternnetzwerk vom Sommer 2020 hat an Aktualität nichts verloren. Ignoriert, allein gelassen, bestenfalls zum Objekt politischen Mitleids degradiert. Der sture Fokus auf vermeintlich milde Krankheitsverläufe und das Ausblenden von Long Covid-Geschehen durch die Verantwortlichen wirkt zunehmend berechnend. Don’t panic. In zehn Jahren sind andere politisch zuständig. Kinder haben keine Lobby in dieser Pandemie, in der Wahlen, Koalitionsverhandlungen und politisches Kalkül so viel mehr zählen als der Schutz jener, die unsere Gesellschaft in die Zukunft tragen sollen.

Wenn pubertäre Teenies morgens statt mit einem Gruß mit der vorherrschenden Farbe der Corona-Landkarte ins Bad kommen, wissen wir Eltern, dass die Welt unseres Nachwuchses komplett Kopf steht. Wenn sich Kinder davor fürchten, in die Schule zu gehen, weil sie realisieren, dass dort (oder auf dem Weg dorthin? – denn die Schulen „sind ja sicher“, genau wie die Rente) ein tödliches Virus lauert, wissen wir Eltern, dass wir es nicht schaffen, unsere Kinder zu schützen. Wenn uns die Antworten auf die Fragen unserer Kinder ausgehen, warum sich niemand für sie und ihre Belange interessiert – in Taten, nicht in Worten –, wissen wir, dass der ominöse und vielbeschworene Generationenvertrag spätestens mit Corona aufgekündigt wurde.

Der Zynismus und die Achtlosigkeit mit denen die Pandemie in den Lebensbereichen von Kindern und Jugendlichen gesteuert wird, ist nicht zu überbieten. Er führt uns Eltern unsere Ohnmacht vor Augen, auf unsere Kinder so aufzupassen, wie wir es bei deren Geburt versprochen haben. Damit beschädigt er nicht nur sie und ihr Grundvertrauen in die Welt, sondern er zerstört das natürliche Vertrauen innerhalb von Familien. Er torpediert den Glauben unserer Kinder in das Wohlwollen und den Willen, sie zu schützen.

Das Corona-Management in der Lebenswelt unserer Kinder hat in unsere Gesellschaft einen tiefen Riss gezogen. Wir Familien und erst recht unsere Kinder wissen jetzt, dass wir nichts zu erwarten haben. Und zugleich geben wir die Hoffnung nicht auf, dass irgendwo doch ein Fünkchen Interesse, Verstand, Mitgefühl zu finden ist.

Ist es wirklich notwendig, hier zum tausendsten Mal aufzuzählen, was das Mindestmaß an Schutz wäre, welches unsere Gesellschaft unseren Kindern in Schulen und Kitas bieten müsste? Gibt es noch irgendeinen ernstzunehmenden Menschen in der Politik, der oder die nicht weiß, was eigentlich ansteht? Viele Schulen haben gezeigt, wie ein Schulbetrieb in Pandemiezeiten funktionieren kann. Nicht ideal – aber real!

Alle Akteure rund um Schule sind nun mit aller Kraft an ihrem Wirkungsort gefragt - allen voran die Kultusadministration und deren Ministerin, aber auch die Verantwortlichen in Berlin, kommunale Verwaltungspersonen, Gemeinderät*innen, Busunternehmen und Menschen in den Schulgemeinschaften. Wir sagen: Kümmert euch um unsere Kinder!

  • Beteiligt Vertreter*innen aller Schulakteure an Besprechungsrunden z. B. im KM zur Schulorganisation@Corona. Schule ist sehr viel mehr als eine Lehrer-Veranstaltung!
  • Beteiligt die schulischen Gremien (GLK, Elternbeirat, Schulkonferenz, SMV) an der Bestimmung des richtigen Kurses durch die Pandemie vor Ort.
  • Koordiniert regionale Maßnahmen in einem „Runden-Tisch Schule@Corona“ unter Beteiligung von Schulträger, Schulen, Gesundheitsamt, Schulamt und ggf. anderen wichtigen Beteiligten vor Ort und liefert dafür einen Handlungsleitfaden/Checkliste, um einen landesweiten Kurs für die Schulen zu fördern, damit Besprechungen effektiv sind.
  • Gebt den Schulen echte Unterstützung in dieser fordernden Situation, die den Namen verdient (Materialien für Distanzlernen, Hotline für juristische Fragen, psychologische Beratung für SL, Hilfe beim Datenschutz, Ansprechpartner*innen am Wochenende).
  • Ermöglicht ein sicheres Testregime durch PCR-Pool Tests. Alle Schulbeteiligten – geimpft, ungeimpft und gesundet – müssen ausnahmslos regelmäßig getestet werden.
  • Macht Hybridunterricht zum Teil von sicherem Lernen, bis dieses Virus endgültig besiegt ist.
  • Flexibilisiert Präsenzzeiten, so dass Schulen nach ihren individuellen Rahmenbedingungen weiterhin gute Schule machen können.
  • Dehnt die Weihnachtsferien aus – und zwar mit so viel Vorlauf, dass Familien sich ernsthaft darauf einstellen können.
  • Und ja, kauft Luftfilter als eine weitere Käsescheibe des Sicherheitskonzepts.

 

Vor allem aber: Macht euch endlich ehrlich! Nichts ist wie es war!

  • Wir brauchen reduzierte Lerninhalte und Prüfungsanforderungen.
  • Wir brauchen einen Dialog mit Ausbildungsbetrieben und Hochschulen über Zulassungsbedingungen und Leistungserwartungen.
  • Wir brauchen eine klug geregelte Präsenzpflicht.
  • Wir brauchen klare Ansagen an Lehrerinnen und Lehrer, dass die Seele der Kinder wichtiger ist als vier Klassenarbeiten im Jahr.
  • Wir brauchen eine Kultuspolitik, die auf Pädagogik und gesunden Menschenverstand setzt, statt auf juristische Spitzfindigkeiten.
  • Spart Euch Eure Krokodils-Tränen. Setzt die psychische Gesundheit unserer Kinder endlich oben auf die Tagesordnung. Zwei Prüfungsgenerationen hat die Politik in der Pandemie schon verschlissen. Wie viele Kinder soll dieser Wahnsinn aus Ignoranz und stumpfer Systemgläubigkeit noch kaputt machen? Werdet Eurer Verantwortung endlich gerecht!

Für das Netzwerk Eltern im Verein für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V.

Dr. Ulrike Felger

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