Wunsch und Wirklichkeit: Digitalität an den Schulen in BW

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Wunsch und Wirklichkeit: Digitalität an den Schulen in BW

Wunsch und Wirklichkeit: Digitalität an den Schulen in BW
Die Bilanz der Digitalen Transformation an Baden‐Württembergs Schulen fällt ernüchternd aus. Das gegenseitige Schulterklopfen der Politik beschränkt sich auf die Freigabe erheblicher Summen, um bei Endgeräten, digitaler Ausstattung und dem Handling digitalen Equipments vor Ort die eklatanten Versäumnisse vieler Jahre hektisch wettzumachen. Dass die Digitale Transformation von Schule ein Veränderungsprozess ist, bei dem Technik nur Vehikel für eine Kultur der Digitalität ist, scheint für die Verantwortlichen immer noch das legendäre „Neuland“ zu sein.
„Wenn wir die letzten viereinhalb Jahre nüchtern betrachten, müssen wir sagen: Für die Qualitäts‐ und Zukunftsentwicklung der Schulen im Land geht eine verlorene Legislaturperiode zu Ende“, fasst Matthias Wagner‐Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V., die Ernüchterung der Digitalisierungs‐Initiative aus BLV, GEW, Grundschulverband, VBE und GMS‐Verein zusammen. Selbst wenn das Kultusministerium zurzeit hektische Betriebsamkeit vermittelt, ist den Verbänden der Initiative die Substanz der Aktivitäten durchgängig zu gering. „Die Verschleppung dieser Zukunftsaufgabe kann man als Tragödie in zehn Akten fassen“, erklärt Oliver Hintzen, stellv. Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung VBE: „Statt der Digitalen Transformation serviert man alten Wein in digitalen Schläuchen.“ Oder wie es Thorsten Dirks, CEO von Telefónica Deutschland, schon vor einigen Jahren ausdrückte: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“

Die diesbezügliche Reklamationsliste der Initiative ist liest sich wie folgt:
• Zu wenig Digitale Transformation, sondern stotternde Digitalisierung.
• Zu wenig Kultur der Digitalität, sondern alter Wein in digitalen Schläuchen.
• Zu wenig Blick aufs große Ganze, sondern wahlkampfmotivierte Einzelaktionen.
• Zu wenig ressortübergreifende Teamleistung, sondern Alleingänge des KM.
• Zu wenig Wissenschaftlichkeit, sondern Stammtischlogik als Richtschnur.
Es fehlt nicht nur der Schulterschluss von Ministerien, Instituten und Institutionen, Referaten und Organen der Schulverwaltung, sondern die Praxis wird insgesamt kaum an der Gestaltung des Wandels beteiligt. „Statt von unserer Alltagskenntnis, den Erfahrungen aus der Schule@Corona und der Expertise der päd. Profis zu profitieren, werden im stillen Kämmerlein Lösungen ersonnen, über die Medien verteilt und per Verordnung durchregiert“, sagt Thomas Speck, Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbands BLV, und weitet die Kritikpunkte der Initiative aus:
• Zu wenig professionelles Changemanagement, sondern erratisches Veränderungs‐Stückwerk.
• Zu wenig spezifische Ressourcen für echten Wandel, sondern Gießkannenprinzip.
• Zu wenig Gesellschafts‐ und Lebenskompetenz, sondern Prüfungswahn.
• Zu wenig Beteiligung der Praxis, sondern Lösungen am grünen Tisch und par ordre du mufti.
• Zu wenig Nutzung existierender Expertise, sondern in den Mühlen der Verwaltungsorgane verpuffendes Know‐how.
Die sogenannten „Digitallösungen“ des Kultusministeriums sind ein buntes Feuerwerk von Einzelmaßnahmen, das verglüht, bevor es an den Schulen überhaupt ankommt. „Aktuelle Lösungen sind in der Regel immer nur für Teilsegmente der Schulwelt nutzbar“, rügt Prof. Thomas Irion, Digitalisierungsexperte im Vorstand der Grundschulverbandes BW. Trotz aller Beteuerungen seien Tools wie Moodle oder Big Blue Button z.B. für die Primarstufe völlig ungeeignet. Das ministerielle Vorzeigeprojekt Threema schließt die Schüler:innen und Eltern als substanziellen Teile der Schulwelt, von vornherein aus seinem Kommunikationsanspruch aus.

Über allem hängt zudem als Damoklesschwert die Frage des Datenschutzes. „Am Markt gibt es eine ganze Welt an Möglichkeiten, um Digitalität in die Schulen zu bringen. Doch der Zugang ist verboten, was jedes Engagement digitalaffiner Lehrkräfte ad absurdum führt: Nicht Eltern, sondern Lehrer haften hier für sich und die Kinder!“, moniert David Warneck, stellv. Landesvorsitzender der GEW:
Die resultierende Belastung und das Risiko der Beteiligten, von Lehrenden und Schulleitungen, ist enorm. Für die Initiative ist das so nicht hinnehmbar: „Ein seriöser Arbeitgeber muss innerhalb der Arbeitsumgebung Rechtssicherheit gewährleisten“, sind sich die Verbände einig Das Resümee der Initiative ist bitter: „Es ist alles da im Land! Wir haben Expertise, Erfahrung und Einblick in das Schulgeschehen, um diese Herkulesaufgabe gemeinsam zu lösen und doch passiert nichts“, erklären die Interessensvertreter. Die Moderation, Koordination und Begleitung eines solchen Vorhabens müsste in den Händen des verantwortlichen Ministeriums liegen. Doch dessen Hausherrin ist mit anderem beschäftigt – zudem mangelt es an grundlegenden Voraussetzungen, um ein solch anspruchsvolles Vorhaben auf die Spur zu setzen. Der Kultusministerin und ihrem Spitzenpersonal fehlen
• die notwendige Dialog‐ und Entwicklungsbereitschaft,
• die Bereitschaft zu vernetzen und zu befähigen,
• der Wunsch miteinander voneinander zu lernen,
• der Wille alle mitzunehmen, die zur Schulwelt dazu gehören,
• ein grundsätzliches Bekenntnis zur Erneuerung!
Diese für die gesamte Schulwelt in Baden‐Württemberg schmerzhafte Lücke versucht die Digitalisierungs‐Initiative seit ihrer Gründung im Frühjahr zu schließen. Die beteiligten Verbände sehen sich als Stimme der Vernunft und als Plattform, um Schulpraktiker:innen quer durchs Land und über alle Stakeholdergruppen hin zu vernetzen. Trotz vielfacher Angebote hat die Kultusministerin von diesem Potenzial bisher noch keinen Gebrauch gemacht.

Die Kultusministerin verschließt sich vielmehr schon seit ihrem Amtsantritt den Realitäten und verweigert sich der Notwendigkeit, die Schulen im Land stabil und zukunftsfähig aufzustellen. Deshalb rufen die Beteiligten der Digitalisierungs‐Initiative mit wertschätzender Kommunikation, einer Würdigung der bisherigen Beiträge der Schulen und einer Begegnung auf Augenhöhe dringend dazu auf, die Zukunft von Baden‐Württembergs Schulwelt besonnen, mutig und mit Weitblick zu gestalten. Diese Allianz der Willigen muss Anwalt sein für rund 1.5 Millionen Schüler:innen, deren rd. 120.000 Lehrer:innen und über 4.000 Schulen im Südwesten.

Die nächsten Schritte:
Um an dieser Stelle einen Schritt weiter zu kommen, nehmen die beteiligten Praxisakteure der Schulwelt nun das Heft selbst in die Hand. Gemeinsam mit Vertreter:innen aus Schule, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wird sich die Digitalisierungs‐Initiative im Rahmen einer Online‐Themenwoche mit der Frage beschäftigen, wie Lernen in Baden‐
Württemberg künftig digital gedacht und gemacht werden muss. Zum Abschluss dieser Themenwoche zur Kultur der Digitalität an Schulen werden die zentralen Erkenntnisse aus allen Einzelveranstaltungen in eine gemeinsame "Tübinger Erklärung zur digitalen Schulkultur BW" einfließen und veröffentlicht.

Matthias Wagner‐Uhl, Neuenstein

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