Chronik eines angekündigten Versagens

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Chronik eines angekündigten Versagens

Dem nächsten Höhepunkt kultusministeriellen Versagens durften heute ab 7.30 Uhr hundertausende baden-württembergische Schülerinnen und Schüler mit ihren Eltern beiwohnen. Der Start der Neuauflage der Schule@Corona erwies sich vor allem als eines: ein eindrucksvoller Beleg, warum die verantwortliche Kultusministerin so hartnäckig auf Präsenzunterricht als aus ihrer Sicht einzig richtigen Ansatz für Schule pocht. Die Plattformen und Server der Landeslösungen waren dem Ansturm hochmotivierter Lernenden und ihrer Lehrer:innen nicht gewachsen. Rien ne va plus!

Nach gut 45 Wochen Schule@Corona scheint die Schule@Home zumindest was die technischen Voraussetzungen angeht kaum weiter zu sein, als im Frühjahr 2020. Während kommerzielle Lösungen wie MS Teams/ Office 365 oder itslearning zuverlässig performen, kann man dies von den viel gepriesenen Landeslösungen nicht sagen. Dort hieß es Moodle down, Big-Blue-Button down. Da hilft nur der Griff zum Messenger – hätte man Threema nicht nur exklusiv für Lehrer:innen ausgerollt, sondern die Hauptakteure von Schule, die Schülerinnen und Schüler, gleich mitgedacht. Und so werden selbst nach einem dreiviertel Jahr Schule unter Pandemiebedingungen wieder Lehrende in die Grauzone zwischen Datenschutz und Berufsethos gedrängt. Wer an diesem Tag heute mit seinen Schüler:innen kommuniziert, tut dies über WhatsApp, Hangouts oder eines der kommerziellen Videokonferenzsysteme.

Die Wut der Beteiligten könnte kaum größer sein. Was wurde verkündet, verlautbart und palavert. Doch vom Reden digitalisiert sich Schule nicht. Gerade wer auf Tradition und Folklore steht, sollte die alten Weisheiten kennen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! „Es ist beschämend wie sich die Schulwelt im Südwesten heute früh nach außen präsentierte. Da haben tausende von Kolleg:innen die Ferien damit verbracht, sich auf den Schulstart gut vorzubereiten und dann scheitert es –wieder einmal – an den technischen Voraussetzungen“, erklärt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V.

Und so sind die Kinder in Baden-Württemberg heute früh zwar mit Elan aus dem Bett gesprungen, doch die Ernüchterung folgte auf den Fuß. Endlich wieder Schule, endlich wieder die vertraute Gang sehen. Da spielte es gar keine große Rolle, dass das Wiedersehen im Online-Klassenzimmer stattfinden sollte. Wie auch von der Kultusministerin so gerne strapaziert wird: Schule ist mehr als Lehren und Lernen. Schule ist Lebensraum – wenn nötig während einer weltweiten Seuche auch in virtueller Begegnung.

Doch die Realität lehrt etwas anderes. Der Kultusministerin und ihrer Verwaltungsspitze ist genau dieser Austausch, dieses miteinander arbeiten und lernen, dieser gewinnbringende Umgang von Menschen unwichtig. Denn sonst hätte sie binnen 45 Wochen dafür gesorgt, dass genau dieses Desaster heute früh vermieden wird. „Dieses ganze Gerede von der Sorge um die Eltern ist ein Witz – heute früh haben hundertausende von Eltern im Land Stunden damit zugebracht, ihre Kinder zu beschwichtigen, zu versuchen einen Kontakt zu Lehrern zu bekommen und zu verstehen, wie ‚Schule‘ unter dieser unsäglichen Bedingungen funktionieren soll“, sagt Dr. Ulrike Felger, Sprecherin des Elternnetzwerks im Verein.

Das alles begleitet vom Damoklesschwert einer weiterlaufenden Leistungsbewertung, die für das Lernen auf Distanz explizit angekündigt ist. „Der Fokus der Kultusministerin liegt nicht auf guter Schule und gutem Lernen. Der Fokus liegt auf Noten – und die werden in den kommenden Wochen erbarmungslos eingefordert, ggf. auch damit, Kinder mitten im Lockdown für einen Vokabeltest in die Schule zu zitieren. „‚Koste es was es wolle‘, bekommt im Kontext Schule mittlerweile eine ganz neue Bedeutung“, sagt Felger.

Nach dem unsäglichen Start des neuen Jahres in den baden-württembergischen Schulen bleibt für die Beteiligten auf jeden Fall eine zentrale Botschaft, die auch schon im Frühjahr deutlich wahrgenommen wurde: Kultusministerin Eisenmann kümmert sich nicht ernsthaft darum, dass Schule funktioniert. „Und das gilt bei Weitem nicht nur beim digitalen Lernen“, betont Vereinsvorsitzender Wagner-Uhl.

Und so beschwört die Kultusministerin ganz berechnend das Schul-Trauma des Frühjahrs wieder herauf: Ist alles nicht so wichtig. Schule ist nicht wichtig, ihr seid nicht wichtig. Welche Botschaften einer Bildungsministerin an die nächste Generation!

 

Matthias Wagner-Uhl

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