Auf den Boden der Tatsachen

  • Matthias Wagner-Uhl
  • NETZWERK POLITIK

Auf den Boden der Tatsachen

Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Landespresse,

in einem Kraftakt haben Schulleitungen und Kollegien die Schulen im Land bisher durch die Schule@Corona gelotst. Mit dem neuen Schuljahr geht die Herkulesaufgabe weiter: Während sich vor Ort das Personal auf den Betrieb im Winter@Corona vorbereitet, versucht die Kultusministerin in Stuttgart Scheinwelten zu schaffen, die ihren politischen Ambitionen zugutekommen. Denn trotz der frohen Botschaften aus dem Kultusministerium kommen die angeblichen Erfolge längst nicht in allen Schulen an.

Eine aktuelle Abfrage des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V. gibt einen Einblick in die bittere Realität an den Schulen im Land.

 

Auf den Boden der Tatsachen

Die Versorgung der Schulen mit Lehrerinnen und Lehrern ist zum Anfang jedes Schuljahres ein Dauerbrenner. Doch noch nie war die Situation so angespannt wie zum kommenden Schuljahr. Dabei fordert die Pandemie ebenso ihren Tribut wie eine kurzsichtige und kopflose Personalpolitik der Kultusministerin.

Passend zum Auftakt des Landtagswahlkampfs legt das Kultusministerium die aktuellen Zahlen zur Lehrerversorgung an den Schulen im Südwesten auf den Tisch. Und – kaum überraschend – das Fazit von höchster Stelle ist klar: „Alles bestens“.

Doch die Situation an den Schulen stellt sich so ganz anders da, als in den Verlautbarungen des Ministeriums. Das grundlegende Problem: Kultusministerin Susanne Eisenmann und zahllose Schulgemeinschaften im Land leben auf verschiedenen Planeten.

„Wir brauchen kein Geld, sondern wir brauchen an den Schulen Personen“, verschließe die Kultusministerin die Augen vor der Realität und stürze die Schulen damit ins Chaos, konstatiert Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in BW e.V. Der Eindruck hat sich über Jahre verfestigt: „Keine Visionen, keine Strategie, kein Ziel – das gilt für die Digitalisierung genau wie für die unverzichtbaren Rahmenbedingungen eines Schulbetriebs in vernünftiger Qualität“, rügt der Pädagoge.

Obwohl sich viele Menschen, die in der Schulverwaltung praktisch an der Lehrerversorgung beteiligt sind, redlich mühen, sieht es an vielen Schulen düster aus. Eine aktuelle Abfrage des Vereins für Gemeinschaftsschulen zeigt, dass nicht einmal die Hälfte der rückmeldenden Schulen ihre Versorgung im Direktbetrieb (also dem schulischen Tagesgeschäft) gesichert hat. „Die Schulen gehen auf dem Zahnfleisch – wenn da noch Fortbildungen, Schwangerschaften oder Krankheit dazu kommen, kann von einem regulären Betrieb nicht mehr die Rede sein“, sagt Wagner-Uhl. Von den Anforderungen der Pandemie ganz abgesehen.

Was in der Abfrage auffällt, ist die völlig uneinheitliche Erfassung angeblicher Lehrerressourcen. „Während mancher Orts weitsichtig der Ausfall schwangerer Kolleginnen gerade in Corona-Zeiten antizipiert wird, entstehen in anderen Schulamtsbezirken Zahlen, die alles einberechnen, was an der Schule kreucht und fleucht“, berichtet der Vereinsvorsitzende. So kommt zwar eine wohlklingende Versorgung zustande – nur bei den Kindern kommt vom vermeintlichen Unterrichtsbetrieb nichts an.

Zur Erinnerung: Damit ein Schulbetrieb flüssig läuft, ist eine Lehrerversorgung zu 108 bis 110 Prozent notwendig – dies gilt umso mehr für den Winter@Corona. Vier Fünftel der Befragten sind allerdings überaus pessimistisch, bei künftigen Lehrerausfällen überhaupt Ersatz zu bekommen. „Jeder der wegbricht, löst eine Katastrophe aus – schlaflose Nächte sind da garantiert“, weiß Wagner-Uhl aus eigener Erfahrung.

Die Folge: 85 Prozent der befragten Rektorinnen und Rektoren geben an, dass sie extrem bzw. ziemlich belastet sind. Ein Wahnsinn angesichts der hohen Verantwortung, die Schulleitungen in der Pandemie zu tragen haben – und die nicht erst seit gestern auf die von der Ministerin angekündigte Schulleitungsentlastung warten. „Man kann unter diesen Bedingungen an den Schulen die Menschen nicht gesund halten“, erklärt Wagner-Uhl.

Die Klagen der Ministerin über mangelnde Lehrkräfte und fehlende Schulleitungen entpuppen sich angesichts dessen, was sich zurzeit an den baden-württembergischen Schulen abspielt, als blanker Zynismus: „Die ständigen leeren Versprechungen der Kultusministerin verschleißen gerade die Menschen, die Schule engagiert voranbringen – da müssen sich die Verantwortlichen schon fragen, ob wir uns das wirklich leisten wollen“, sagt Wagner-Uhl.

Was es definitiv braucht, sind Menschen an den Schulen, die die vorhandenen Lehrkräfte unterstützen und entlasten. Denn auf den von der Ministerin propagierten Vertretungspool will sich selbst ihre eigene Verwaltung hinter vorgehaltener Hand nicht verlassen. Zwei Drittel der Befragten befürworten den Einsatz von Lehramtsstudierenden uneingeschränkt. Die Gründe sind vielfältig und wie so viele Themen rund um die Schulen im Land vielfach benannt. Und auch diese werden wie vieles anderes von der Kultusministerin rigoros vom Tisch gewischt. 
Die Verpflichtung von Quereinsteigern ist nur sehr eingeschränkt möglich. „Hier gibt es gerade für manche Mangelfächer Möglichkeiten – doch die Bedingungen sind so unattraktiv, dass wir keine stabilen Arbeitsverhältnisse etablieren können“, sagt Wagner-Uhl.

Der landesweit durchschnittliche Lehrerausfall von rund zehn Prozent wäre an anderer Stelle undenkbar: Wir haben zehn Fachministerien in Baden-Württemberg. Was wäre, wir ließen eines davon für eine Legislaturperiode unbesetzt und die anderen Ressorts machen den Job einfach mit?! Das Geschrei wäre groß.

Dreisprung zu verlässlicher Schulqualität im Corona-Schuljahr 20/21

1.    Kürzung der Stundentafel an allen Schulen im Land auf 85 Prozent Grundversorgung, um den Mangel an Lehrkräften abzufangen und eine stabile Lehrerreserve zu sichern.

2.    Aufbau schulindividueller Lehrerreserven für ständig aufkommende kurzfristige Ausfallsituationen, mit denen im Winter@Corona fest zu rechnen ist.

3.    Einbinden von Lehramtsstudierenden, dadurch Entlastung und Unterstützung der Lehrkräfte für die individuelle Förderung von Schüler:innen sowie als wertvolle Praxiserfahrung für die Lehrenden von morgen.

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