Chance auf überfälliges Update

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Chance auf überfälliges Update

Die ‚Wiedereröffnung der Schulen‘ erweist sich bei genauem Hinsehen weitgehend als Mogelpackung – und zwar in vielerlei Hinsicht. Nicht nur Eltern fragen sich, wohin das führen soll, wenn ihre Kinder lediglich stunden-, tage- oder wochenweise ihre Bildungsanstalt von innen sehen. Denn keiner kann versprechen, dass die Schule@Corona nicht noch weit bis ins nächste Schuljahr reichen wird.

„Die Menschen, die für den Schulbetrieb vor Ort verantwortlich sind, schauen mit sehr gemischten Gefühlen auf das kommende Schuljahr“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. Bis zu einem flächendeckend leidlich entspannten und zugleich rhythmisierten Schulbetrieb sei es noch ein weiter beschwerlicher Weg, so seine Einschätzung.

Für viele Schulen sind es die ganz alltäglichen Dinge wie mangelnde Ausstattung, eine zu kurze Personaldecke, fehlendes Digitalisierungsknowhow oder zu kleine Räume, die ein Planen in Hygienedimensionen schier unmöglich machen. Viele engagierte Pädagog:innen agieren in der Krise weit über ihre Belastungsgrenze hinaus, schließlich geht es darum, die Schüler:innen möglichst gut bei der Stange zu halten. „Wir müssen uns auf der Lehrerseite dem Thema Gerechtigkeit stellen – im Moment sind die Einsatzzeiten eher weniger am Deputat orientiert, sondern an der pädagogischen und fachlichen Notwendigkeit“, berichtet Volker Arntz, Sprecher des Netzwerks Schule im Verein. Der Leiter der Hardtschule in Durmersheim weiß, von was er redet: „In der akuten Krise war es für die Kolleg:innen absolut akzeptabel, aber als längerfristiges Modell ist das nicht tragfähig“.

Kopfzerbrechen bereiten den Verantwortlichen insbesondere die „Schulanfänger“ in den Klassenstufen 1 und 5. Während man in anderen Jahrgängen auf etablierte Beziehungsstrukturen zurückgreifen kann, starten diese Schüler:innen mit ihren Lehrenden von Null. „Der Einstieg in diesen neuen Lebens- und Bildungsabschnitt unter Corona-Bedingungen ist äußerst schwierig und wir sind dabei, alle unsere bewährten Formate zu überdenken“, erzählt Martin Felber, ebenfalls im Netzwerk Schule des Vereins und Schulleiter der Spitalhof-Gemeinschaftsschule in Ulm. Genauso schwierig sei es, sich unter diesen Voraussetzungen von vertrauten Lehrpersonen oder gar als Abschlussklasse voneinander zu verabschieden.

„Das wichtigste im Feld ist Beziehungsarbeit und die ist bei der Konzeption von Unterricht in drei verschiedenen Settings, also Hybridunterricht, Präsenzunterricht unter besonderen Bedingungen sowie Schule@Home eine ziemliche Herausforderung“, resümiert Dominic Brucker, Rektor der Gemeinschaftsschule Jettingen, und ebenfalls im Netzwerk Schule aktiv. Insbesondere wo Lehrerwechsel anstehen, sei eine frühzeitige Personalplanung unverzichtbar. Und noch ein Punkt ist ihm wichtig: Für einen Schulbetrieb mit weiterhin reduziertem Unterrichtsumfang müsse die Kontingentstundentafel in den Blick genommen werden, um Mindeststandards zu definieren, wie viele Stunden Unterricht in welchem Fach tatsächlich angeboten werden sollen.

Ja, die Lage ist hochgradig dynamisch. Trotzdem müssen die Schulen planen – und dafür benötigen sie seitens des Kultusministeriums eine frühzeitige Information zu den Startbedingungen im September. Beliebig lange werden die Eltern im Land das Lernen auf Sichtflug und unter Einbindung enormer familiärer Ressourcen nicht mehr hinnehmen. Dominic Brucker ist zuversichtlich, dass die Gemeinschaftsschulen auch diese Herausforderung meistern: „Wir werden eine vielschichtige Planung fahren, in Ferienabschnitten denken und immer den Plan B in der Schublade haben müssen - das erfordert eine sehr hohe Flexibilität von allen Beteiligten.“

Flexibilität ist allerdings genau das, was im altehrwürdigen Schulsystem nicht wirklich vorgesehen ist.  Während sich viele Schulbeteiligten klare und verlässliche Vorgaben wünschen, um diese brav umzusetzen, wollen tatkräftige Schulleiter:innen mit engagierten Kollegien etwas anderes: Sie verlangen mehr Handlungsspielraum, um das neue Normal nach Kräften zu gestalten. „Alle sprechen von kreativen Lösungen und wir haben da an den Gemeinschaftsschulen ein enormes Potenzial. Aber es braucht den Freiraum, abseits ausgetretener Pfade neue Dinge umzusetzen“, sagt Vereinsvorsitzender Wagner-Uhl. Denn unterm Strich geht es auch hier um Qualität: „Eine individuelle Gestaltung unter Berücksichtigung der Vor-Ort-Situation ist mit hoher Sicherheit wirksamer, als dezidierte Vorgaben, die in der Ferne zentral entwickelt werden.“

Orientierung könnte der neue „Qualitätsrahmen für Unterricht“ bieten, wenn er denn fertig wäre und von einem durchdachten Ökosystem aus Lehrerfortbildung und digitaler Grundunterstützung begleitet würde. Hier ist das Ministerium in der Verantwortung, endlich allen Schulakteuren einen Orientierungsmaßstab für gute Schule zu bieten. „In diesen wirren Zeiten muss doch klar sein, was wir überhaupt von Schule erwarten, doch gerade hier bleibt uns die Kultusministerin die Antwort schuldig“, rügt Matthias Wagner-Uhl. Wie könne es beispielsweise sein, dass die „abgehängten Kinder“ jetzt in aller Munde sind und damit in den Fokus der Kultusministerin und Spitzenkandidatin rücken, obwohl das Phänomen an sich seit langem bekannt ist und die Zahl der Bildungsverlierer:innen stetig wächst?

In einem ist man sich einig: Der Bildungsplan muss entschlackt und die Prüfungen ernsthaft an die besonderen Bedingungen angepasst werden. Auch hier bietet die Zäsur durch die Schule@Corona eine Chance: Eine Neuausrichtung könnte das Schulgeschehen im Land zukunftsfähiger machen und endlich an internationale Standards heranführen. „Wie sehr wir im internationalen Feld hinterherhinken, hat uns das Corona-Virus brutal vor Augen geführt – und das nicht nur bei Leistungsvergleichen, sondern auch in der Umsetzung eines zeitgemäßen Schulbetriebs“, mahnt Wagner-Uhl. „Schule komplett neu denken“, war nie dringender notwendig und zugleich so greifbar wie heute.

Um hier voran zu kommen, muss man sich ehrlich machen und die Schwächen und Versäumnisse des baden-württembergischen Schulsystems auf den Tisch bringen. „Das ‚neue Normal‘ muss in der Schulwelt erst noch gefunden werden, idealerweise unter Berücksichtigung von Wissenschaft und Praxis und unter Beteiligung aller relevanten Stakeholder unserer Schul- und Bildungsrealität“, fordert der Vereinsvorsitzende: „Aber nie standen die Chancen für ein überfälliges Update unserer baden-württembergischen Schulwelt besser, als gerade.“

Doch die Sache hat einen Haken: die Aufarbeitung der Pandemie und damit auch der Schule@Corona fällt mitten in den Landtagswahlkampf. Das lässt Schlimmstes befürchten. Statt Bildungspolitik zu machen, wird dann wieder mit Bildung Politik gemacht. Die Verlierer sind dabei die Schüler:innen und alle anderen Menschen an den Schulen im Südwesten.

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