Über die

  • Matthias Wagner-Uhl / Joachim Friedrichsdorf
  • NETZWERK POLITIK

Über die "Privilegien" einer Gemeinschaftsschule

Es hält sich hartnäckig das Gerede von einer angeblichen Privilegierung der Gemeinschaftsschule im Vergleich zu den anderen Schularten - worin diese Privilegierung bestehen soll, bleibt allerdings überwiegend im Dunkeln. Daher soll zunächst nach Bereichen gesucht werden, auf denen eine Privilegierung bestehen könnte.Diese Bereiche könnten beispielsweise in folgender - nicht abgeschlossener - Auflistung
bestehen:
● Privilegierte Schülerschaft
● Privilegierte Finanzierung
● Privilegierte Ressourcenlage
● Privilegierte Unterstützung durch Schulverwaltung / Politik
● Privilegierter Klassenteiler
● Privilegierte Deputatsregelungen
● Privilegierte Laufbahnperspektiven
● Privilegierte Leitungssituation
● Privilegierte Ausbildung
● ?
Ein näherer Blick auf die Details bei den einzelnen Bereichen zeigt - zumindest wenn man die Gemeinschaftsschule mit dem Gymnasium vergleicht, durchweg das Gegenteil. Die Betrachtung der Fakten bestätigen eher den bekannten Grundsatz: „Der Kritiker kritisiert immer sich selbst“.

Hier die Punkte im Einzelnen:

Privilegierte Schülerschaft:
Das Gymnasium rekrutiert fast durchweg die leistungsstarken und arbeitswilligen Schüler der überwiegend privilegierten Elternhäuser. Sollten dennoch andere Schüler an ein Gymnasium aufgenommen worden sein, so sorgt die Multilaterale Versetzungsordnung relativ schnell für eine Befreiung von pädagogisch herausfordernden Schülern.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja

Privilegierte Finanzierung:
Häufig wird geltend gemacht, dass der Sachkostenausgleich vom Land an die Kommunen bei den GMS höher ausfällt als bei RS und Gym. Dies resultiert aber aus der Tatsache, dass GMS in der Regel deutlich kleiner sind als RS und Gym und ergibt sich daher aus dem jeweiligen Finanzierungsaufwand für eine bestimmte Schulform. Kleinere Schulen sind teurer als große Schulen, denn auch für kleine Schulen fallen Gebäude- und Personalkosten an, die aber
umgerechnet auf die Zahl der Schüler deutlich höher sind. Diese Differenz im Sachkostenbeitrag des Landes an die Kommunen hat es bei den Hauptschulen immer schon gegeben - nur hat es da niemanden gestört. Die Gelder erhalten aber grundsätzlich die Kommunen und nicht die Schulen.
Anders verhält es sich bei der Weitergabe der Gelder vom Schulträger an die Schulen. Hier werden teilweise alle Schulen gleich bedient - es gibt aber auch Schulträger, die die Summe pro Gymnasialschüler höher ansetzten als für Haupt- und Realschüler.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja (teilweise)

Privilegierte Ressourcenlage:
Jede Schulform benötigt für die Bewältigung der Arbeit eine entsprechende Versorgung mit Lehrkräften. Die Berechnung folgt nach wie vor dem aus dem gegliederten Schulsystem stammenden Schema, dass überwiegend ca 30 angenommen gleich starke Schüler mit den für die sich aus der Kontingentstundentafel ergebenden Stunden versorgt werden. Ein Berechnungsverfahren, das systematisch einen Faktor für die tatsächliche im Unterricht zu bewältigende Heterogenität ansetzt, fehlt bis heute. Statt dessen wird pauschal behauptet, dass die RS die Schulart mit der größten Heterogenität sei und schraubt die Poolstunden auf die gleiche Höhe wie bei den GMS. Eine realitätsnahe Einberechnung des Zusatzaufwands für Inklusionsaufgaben ist bislang auch nicht gegeben. Da die derzeitigen Berechnungsverfahren die Schulformen mit gegliedertem Ansatz bevorzugen, kann von einer Privilegierung der GMS keine Rede sein.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja
Privilegierung der Realschule: Ja

Privilegierte Unterstützung durch Politik / Schulverwaltung:
Seit Einführung der GMS sieht sie sich massiven Angriffen insbesondere von den politischen Parteien und Verbänden ausgesetzt, die ein gegliedertes System bevorzugen. Diese Situation hat sich dem Regierungswechsel in Baden-Württemberg deutlich verschärft. Die GMS muss nicht nur ihren pädagogischen Ansatz permanent rechtfertigen, sie wird
zunehmend durch Verwaltungsmaßnahmen in ihrer Entwicklung behindert, sowie in öffentlichen Auftritten aus dem Kultusbereich entweder diffamiert oder komplett übergangen. Statt dessen werden konkurrierende Schularten und deren Stärkung gezielt gegen die GMS in Feld geführt.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja
Privilegierung der Realschule: Ja

Privilegierte Klassenteiler:
An einer GMS gilt der Klassenteiler 28, an den anderen Schulen 30. Ganz abgesehen davon, dass dieser Klassenteiler insbesondere im Rahmen der Inklusion - etwa wenn Kinder aus privaten Förderschulen zwar regulär zur Klasse gehören, aber nicht zum Klassenteiler gerechnet werden - deutlich überschritten wird, ist dieser Unterschied ein notwendige Bedingung, um einen für den professionellen Umgang mit Diversität erforderlichen Unterricht überhaupt - in Ansätzen - umsetzen zu können. Am Gymnasium gelten teilweise deutlich andere Regelungen für den Klassenteiler, wenn etwa eine Hochbegabtenklasse als Zug geführt wird und damit den Regelungen durch einen Klassenteiler entzogen wird, oder ein Kurs in der Kursstufe in der Regel max. 23 Schüler beträgt.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja

Privilegierte Deputatsregeln:
Die an einer GMS geltenden Deputatsverpflichtungen orientieren sich an den Regelungen für gegliederte Schulformen der Sekundarstufe I. Während an den Gymnasien und Beruflichen Gymnasien, die über eine Sekundarstufe II verfügen, ein mit dem „Arbeitsmehraufwand“ für Vorbereitung und Korrektur begründetes Deputat von 25 Stunden für alle Lehrkräfte mit Sek. II Befähigung gilt, wird an den Gemeinschaftsschulen der durch drei bis vier Niveaustufen-Unterschiede hervorgerufene „Arbeitsmehraufwand“ für Vorbereitung und Korrektur überhaupt nicht berücksichtigt.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja

Privilegierte Laufbahnperspektiven:
An den Haupt- und Realschulen gibt es für die Tätigkeit an der Schule praktisch keine Laufbahnperspektiven außer Schulleitung, während es im Rahmen der gymnasialen Lehrertätigkeit zusätzlich noch Aufstiegsmöglichkeiten für A-14 und A15-Besoldung gibt, auch wenn A15 schon in den Bereich der Schulleitung eingeordnet wird. Die Stellen von
Rektor und Konrektor bestehen darüber hinaus auch noch. An den GMS gilt diese Perspektive nur für die wenigen Gymnasiallehrkräfte, die bislang an den GMS unterrichten - die Mehrheit bleibt ohne Laufbahnperspektive. Von einer Privilegierung kann hier also keine Rede sein.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja

Privilegierte Leitungssituation:
An einer Haupt-, Real- und Gemeinschaftsschule sind prinzipiell Rektor und Konrektor für Schulleitungsaufgaben vorgesehen. Erst ab einer Größe von 800 Schülern ist ein zweiter Konrektor möglich. An einem Gymnasium gibt es - zwar abhängig von der Größe - immer zusätzliche Studiendirektoren, die mit A15-Besoldung Schulleitungsaufgaben wahrnehmen.
Zusätzlich gibt es weitere A14-Stellen, die zwar nicht der Schulleitungstätigkeit zugerechnet werden, die aber mit bestimmten Aufgaben verbunden sind und daher die Schulleitung entlasten.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
=> Privilegierung des Gymnasiums: Ja

Privilegierte Ausbildung:
Die Lehrerausbildung folgt immer noch fast ausschließlich den didaktischen Prinzipien des Unterrichts im Rahmen des gegliederten Systems. Die Haupt- und Realschulen sowie die Gymnasien erhalten also ein passgenau ausgebildetes Personal - sofern diese Schularten nicht mit anderen pädagogisch-didaktischen Formen arbeiten. Für die
Gemeinschaftsschulen gibt es bislang keine flächendeckende passgenaue Ausbildung, so dass diese für ihre neuen Lehrkräfte ein eigenes Aus-/Fortbildungsangebot - zusätzlich zu ihren übrigen Aufgaben - bereitstellen müssen.
=> Privilegierung der Gemeinschaftsschule: Nein
Privilegierung des Gymnasiums: Ja
Privilegierung der Realschule: Ja

Fazit:
Von einer Privilegierung der Gemeinschaftsschule kann keine Rede sein! Ganz im Gegenteil zeigt der Blick in die Details, dass die Gemeinschaftsschule gegenüber anderen Schularten der Sekundarstufe I in vielen Feldern nach wie vor deutlichen Nachholbedarf hat. Dies gilt umso mehr, da die Gemeinschaftsschule im Vergleich zu anderen Sek I-Schularten im Südwesten ein schulgesetzlich verankertes breites Portfolio gesellschaftlich gewünschter Aufgaben bearbeitet und damit einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenleben der Menschen in Baden-Württemberg leistet. Statt einer Privilegierung muss insofern ganz klar ein deutlicher Nachbesserungsbedarf werden.

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